Unter mancherlei Schicksalen fuhren die Helden nun weiter. Auf der Fahrt erkrankte ihnen ihr treuer Steuermann Tiphys,
starb und mußte am fremden Ufer begraben werden. An seine Stelle wählten sie denjenigen von den Helden, der des
Steuers am kundigsten war. Er hieß Ankaios und weigerte sich lange, das schwierige Geschäft zu übernehmen, bis ihm
Hera, die Göttin, Mut und Zuversicht ins Herz gab. Dann aber stellte er sich ans Ruder und lenkte das Schiff so gut, als
wenn Tiphys selbst noch am Steuer säße. Unter seiner Führung gingen sie am zwölften Tage in See und kamen bald mit
vollen Segeln an die Mündung des Flusses Kallichoros; hier sahen sie auf einem Hügel das Grabmal des Helden Sthenelos,
der mit Herakles in den Amazonenkrieg gezogen und hier, von einem Pfeile getroffen, am Meeresufer verschieden war. Sie
wollten eben weiterschiffen, als der klägliche Schatten dieses Helden, von Persephone aus der Unterwelt entlassen,
sichtbar ward und sehnsüchtig nach den stammesverwandten Männern blickte. Er stand zuoberst auf seinem Grabhügel in
der Gestalt, in welcher er in die Schlacht gegangen war: ein purpurner Busch mit vier schönen Federn wehte ihm vom
Helme. Doch war er nur wenige Augenblicke zu schauen und tauchte bald wieder in die schwarze Tiefe hinunter.
Erschrocken ließen die Helden die Ruder sinken. Nur Mopsos, der Wahrsager, verstand das Verlangen der
abgeschiedenen Seele: er riet seinen Genossen, den Geist des Erschlagenen mit einem Trankopfer zu sühnen. Schnell zogen
sie die Segel ein, banden das Schiff am Strande an, und indem sie sich um den Grabhügel stellten, benetzten sie ihn mit
Trankopfern und verbrannten geschlachtete Schafe. Dann fuhren sie weiter und weiter und gelangten endlich zur Mündung
des Flusses Thermodon. Diesem glich kein anderer Strom auf der Erde: aus einer einzigen Quelle tief in den Bergen
entsprungen, teilte er sich bald in eine Menge kleinerer Arme und stürmte in so viel Ausflüssen ins Meer, daß nur viere zu
einem Hundert fehlten. Sie wimmelten wie eine Menge Schlangen in die offene See. An dem breitesten Ausflusse wohnten
die Amazonen. Dieses Weibervolk stammte vom Gotte Ares ab und liebte die Werke des Krieges. Hätten die Argonauten
hier gelandet, so wären sie ohne Zweifel in einen blutigen Krieg mit den Frauen geraten, denn diese waren den tapfersten
Helden im Kampfe gewachsen. Sie wohnten nicht in einer Stadt vereinigt, sondern auf dem Lande zerstreut und in einzelne
Stämme getrennt. Ein günstiger Westwind hielt die Argonauten von diesem kriegerischen Weibervolke fern. Nach der
Fahrt eines Tages und einer Nacht kamen sie, wie ihnen Phineus geweissagt hatte, an das Land der Chalyber. Diese
pflügten nicht das Erdreich, pflanzten keine fruchttragenden Bäume, weideten keine Herden auf der tauigen Wiese; sie
gruben nur Erz und Eisen aus dem rauhen Boden und tauschten gegen dieses ihre Lebensmittel ein. Keine Sonne ging ihnen
ohne schwere Arbeit auf, in schwarzer Nacht und dichtem Rauche verbrachten sie arbeitend ihren Tag.
Noch an mancherlei Völkern kamen sie vorüber. Als sie einer Insel, mit Namen Aretia oder Aresinsel, gegenüber waren,
flog ihnen ein Bewohner dieses Eilands, ein Vogel, mit kräftigem Flügelschlage entgegen. Als er über dem Schiffe
schwebte, schüttelte er seine Schwingen und ließ eine spitze Feder fallen, die in der Schulter des Helden Oïleus
steckenblieb. Verwundet ließ der Held das Ruder fahren; die Genossen staunten, als sie das geflügelte Geschoß erblickten,
das ihm in der Schulter steckte. Der, der ihm zunächst saß, zog die Feder heraus und verband die Wunde. Bald erschien
ein zweiter Vogel; den schoß Klytios, der den Bogen schon gespannt hielt, im Fluge, so daß der Getroffene mitten in das
Schiff herabfiel. »Wohl ist die Insel in der Nähe«, sagte da Amphidamas, ein erfahrener Held, »aber trauet jenen Vögeln
nicht. Gewiß sind ihrer so viele, daß, wenn wir landeten, wir nicht Pfeile genug hätten, sie zu erlegen. Lasset uns auf ein
Mittel sinnen, die kriegslustigen Tiere zu vertreiben. Setzet alle eure Helme mit hohen nickenden Büschen auf; alsdann
rudert abwechslungsweise zur Hälfte, zur andern schmücket das Schiff mit blinkenden Lanzen und Schilden aus. Dann
erheben wir alle ein entsetzliches Geschrei; wenn das die Vögel hören, dazu die wallenden Helmbüsche, die starrenden
Lanzen, die schimmernden Schilde sehen, so werden sie sich fürchten und davonflattern.« Der Vorschlag gefiel den Helden,
und alles geschah, wie er ihnen geraten hatte. Kein Vogel ließ sich blicken, solange sie heranruderten; und als sie der Insel
näher gekommen, mit den Schilden klirrten, flogen ihrer unzählige aufgeschreckt an der Küste auf und in stürmischer Flucht
über das Schiff hin. Aber wie man die Fensterladen eines Hauses vor dem Hagel schließt, wenn man ihn kommen sieht, so
hatten sich die Helden mit den Schilden gedeckt, daß die Stachelfedern herabfielen, ohne ihnen zu schaden; die Vögel
selbst, die furchtbaren Stymphaliden, flogen weit übers Meer den jenseitigen Ufern zu. Die Argonauten landeten auf dieser
Insel nach dem Rate des wahrsagenden Königes Phineus.
Sie sollten hier Freunde und Begleiter finden, die sie nicht erwartet. Kaum nämlich hatten sie die ersten Schritte am Ufer
getan, als ihnen vier Jünglinge im armseligsten Aufzuge, von allem entblößt, begegneten. Einer von diesen eilte den
nahenden Helden entgegen und redete sie an. »Wer ihr auch seid, gute Männer«, sprach er, »kommt armen Schiffbrüchigen
zu Hilfe! Teilet uns Kleider mit, unsere Blöße zu bedecken, und Speisen, unsern Hunger zu stillen!« Iason versprach ihnen
freundlich alle Hilfe und erkundigte sich nach ihrem Namen und Geschlecht. »Ihr habt wohl von Phrixos gehört, dem Sohne
des Athamas«, erwiderte der Jüngling, »der das Goldne Vlies nach Kolchis gebracht hat? Der König Aietes hat ihm seine
ältere Tochter zur Ehe gegeben, wir sind seine Söhne, und ich heiße Argos. Unser Vater Phrixos ist vor kurzem gestorben,
und nach seinem Letzten Willen hatten wir uns zu Schiffe gesetzt, die Schätze, die er in der Stadt Orchomenos gelassen,
abzuholen.« Die Helden waren hocherfreut, und Iason begrüßte sie als Vettern; denn die Großväter Athamas und Kretheus
waren Brüder gewesen. Die Jünglinge erzählten weiter, wie ihr Schiff im wütenden Sturme zerbrochen sei und ein Brett sie
an diese unwirtliche Insel getragen habe. Als ihnen aber die Helden ihr Vorhaben mitteilten und sie zur Teilnahme an dem
Abenteuer aufforderten, da verbargen sie ihr Entsetzen nicht. »Unser Großvater Aietes ist ein grausamer Mann, er soll der
Sohn des Sonnengottes und deswegen mit übermenschlicher Macht begabt sein; unzählige Kolcherstämme beherrscht er,
und das Vlies hütet ein entsetzlicher Drache.« Manche der Helden wurden bei diesem Berichte bleich. Peleus jedoch, einer
von ihnen, erhub sich und sprach: »Glaube nicht, daß wir dem Kolcherkönige unterliegen müssen; auch wir sind
Göttersöhne! Gibt er uns das Vlies nicht in Güte, so werden wir es ihm seinen Kolchern zum Trotz entreißen!« So sprachen
sie miteinander noch länger beim reichlichen Mahle. Am andern Morgen schifften sich die Söhne des Phrixos, gekleidet und
gestärkt, mit ihnen ein, und die Fahrt ging vorwärts. Nachdem sie einen Tag und eine Nacht gerudert, sahen sie die Spitzen
des Kaukasusgebirges über die Meeresfläche hervorragen. Als es schon dunkelte, hörten sie ein Geräusch über ihren
Häuptern: es war der Adler des Prometheus, der seinem Fraß entgegen hoch über das Schiff dahinflog; und doch war sein
Flügelschlag so mächtig, daß alle Segel von ihm wie im Winde sich bewegten. Denn es war ein Riesenvogel, und er schlug
die Luft mit seinen Flügeln wie mit großen Segeln. Bald darauf hörten sie aus der Ferne das tiefe Stöhnen des Prometheus,
in dessen Leber der Vogel schon wühlte. Nach einiger Zeit verhallten die Seufzer, und sie sahen den Adler wieder hoch
über sich durch die Lüfte zurückrudern.
Noch in derselben Nacht gelangten sie ans Ziel und in die Mündung des Flusses Phasis. Freudig kletterten sie an den
Segelstangen empor und takelten das Schiff ab; dann trieben sie es mit den Rudern in das breite Bett des Stromes, dessen
Wellen vor der gewaltigen Masse des Fahrzeugs sich scheu zurückzuziehen schienen. Zur Linken hatten sie den hohen
Kaukasus und Kytaia, die Hauptstadt des Kolcherlandes; zur Rechten breitete sich das Feld und der heilige Hain des Ares
aus, wo der Drache das Goldne Vlies, das an den blätterreichen Ästen einer hohen Eiche hing, mit seinen scharfen Augen
bewachte. Jetzt erhub sich Iason am Borde des Schiffes, er schwenkte hoch in der Hand einen goldenen Becher voll Weins
und brachte dem Flusse, der Mutter Erde, den Göttern des Landes und den auf der Fahrt verstorbenen Heroen ein
Trankopfer dar. Er bat sie alle, mit liebreicher Hilfe ihnen nahe zu sein und über den Tauen des Schiffes, das sie eben
anbinden wollten, zu wachen. »So wären wir denn glücklich zum kolchischen Lande gelangt«, sprach der Steuermann
Ankaios: »nun ist's Zeit, daß wir uns ernstlich beraten, ob wir den König Aietes in Güte angehen oder auf irgendeine andere
Weise unser Vorhaben ins Werk setzen wollen.« »Morgen«, riefen die müden Helden. Und so befahl denn Iason, das
Schiff in einer schattigen Bucht des Flusses vor Anker gehen zu lassen. Alle legten sich zu süßem Schlummer nieder, der sie
jedoch nur mit kurzer Rast erquickte, denn bald öffnete ihnen das Morgenrot die Augenlider.