Der Morgen setzte dem Mahl ein Ziel, und sie fuhren weiter. Nach einigen Abenteuern warfen sie die Anker, gegenüber
dem bithynischen Lande, an einem Ufergebiete aus, wo der König Phineus, der Sohn des Helden Agenor, hauste. Dieser
war von einem großen Übel heimgesucht. Weil er die Wahrsagergabe, die ihm von Apollo verliehen worden, mißbraucht
hatte, war er im hohen Alter mit Blindheit geschlagen worden, und die Harpyien, die gräßlichen Wundervögel, ließen ihn
keine Speise ruhig genießen. Was sie konnten, raubten sie; das Zurückgebliebene besudelten sie so, daß man es nicht
berühren, ja selbst die Nähe solcher Speisen nicht aushalten konnte. Doch war dem Phineus ein Trostspruch vom Orakel
des Zeus gegeben: Wenn die Boreassöhne mit den griechischen Schiffern kommen würden, sollte er wieder Speise
genießen können. So verließ denn der Greis, auf die erste Nachricht von des Schiffes Ankunft, sein Gemach. Bis auf die
Knochen abgemagert, war er anzuschauen wie ein Schatten, seine Glieder zitterten vor Altersschwäche, vor den Augen
schwindelte ihm, ein Stab unterstützte seine schwankenden Tritte, und als er bei den Argonauten angekommen war, sank er
erschöpft zu Boden. Diese umringten den unglücklichen Greis und entsetzten sich über sein Aussehen. Als der Fürst ihre
Nähe vernommen und seine Besinnung wieder zurückgekehrt war, brach er in flehende Bitten aus: »O ihr teuren Helden,
wenn ihr wirklich diejenigen seid, welche die Weissagung mir bezeichnet hat, so helfet mir; denn nicht nur meines
Augenlichtes haben die Rachegöttinnen sich bemächtigt, auch die Speisen entziehen sie meinem Alter durch die gräßlichen
Vögel, die sie mir senden! Ihr leistet eure Hilfe keinem Fremdling; ich bin Phineus, Agenors Sohn, ein Grieche. Einst habe
ich unter den Thrakiern geherrscht, und die Söhne des Boreas, welche Teilnehmer eures Zuges sein müssen und mich retten
sollen, sind die jungen Brüder Kleopatras, die dort meine Gattin war.« Auf diese Entdeckung warf sich ihm Zetes, des
Boreas Sohn, in die Arme und versprach ihm, ihn mit Hilfe seines Bruders von der Qual der Harpyien zu befreien; und auf
der Stelle bereiteten sie ihm ein Mahl, das der räuberischen Vögel letztes sein sollte. Kaum hatte der König die Speise
berührt, als die Vögel, wie ein plötzlicher Sturm, mit Flügelschlag aus den Wolken herabgestürzt kamen und sich gierig auf
die Speisen setzten. Die Helden schrien laut auf; aber die Harpyien ließen sich nicht stören; sie blieben, bis sie alles
aufgezehrt hatten, dann schwangen sie sich wieder in die Lüfte und ließen einen unerträglichen Geruch zurück. Doch Zetes
und Kalais, die Boreassöhne, verfolgten sie mit gezücktem Schwert. Zeus verlieh ihnen Fittiche und unermüdliche Kraft, die
sie wohl brauchen konnten, denn die Harpyien kamen in ihrem Fluge dem schnellsten Westwinde zuvor. Aber die
Boreassöhne waren rüstig hinter ihnen drein, und oft meinten sie, die Ungeheuer schon mit den Händen greifen zu können.
Endlich kamen sie ihnen so nahe, daß sie dieselben ohne Zweifel erlegt hätten, als plötzlich des Zeus Botin, Iris, sich aus
dem Äther herabsenkte und das Heldenpaar so anredete: »Nicht ist's erlaubt, ihr Söhne des Boreas, die Jagdhunde des
großen Zeus, die Harpyien, mit dem Schwerte zu fällen. Doch schwöre ich euch den großen Göttereid beim Styx, daß die
Raubvögel den Sohn des Agenor nicht mehr beunruhigen sollen.« Die Söhne des Boreas wichen dem Eide und kehrten
nach dem Schiffe um.
Unterdessen pflegten die griechischen Helden den Leib des greisen Phineus, hielten eine Opfermahlzeit und luden den
Ausgehungerten dazu ein. Dieser verzehrte gierig die reinen und reichlichen Speisen; es war ihm, als weidete sich sein
Hunger im Traume. Während sie die Nacht über auf die Rückkehr der Boreassöhne warteten, teilte ihnen der alte König
Phineus zum Danke von den Früchten seiner Wahrsagergabe mit. »Vor allen Dingen«, lautete seine Rede, »werdet ihr in
einem Engpasse des Meeres den Symplegaden begegnen; dies sind zwei steile Felseninseln, deren unterste Wurzeln nicht
bis zum Meeresboden reichen, sondern die in der See schwimmen; oft treiben sie einander entgegen, und dann schwillt die
Meeresflut in der Mitte mit fürchterlichem Toben an. Wollet ihr nicht mit Mann und Maus zermalmt werden, so rudert
zwischen ihnen durch, so schnell wie eine Taube fliegt. Dann werdet ihr ans Gestade der Mariandyner kommen, wo der
Eingang zur Unterwelt ist. An vielen andern Vorgebirgen, Flüssen und Küsten fahret ihr dann vorüber, an Frauenstädten
der Amazonen, am Lande der Chalyber, die in ihres Angesichtes Schweiß das Eisen aus der Erde graben. Endlich werdet
ihr zur kolchischen Küste gelangen, wo der Phasis seinen breiten Strudel ins Meer sendet. Hier werdet ihr die getürmte
Burg des Königes Aietes erblicken; hier hütet der schlaflose Drache das Goldvlies, das über dem Wipfel des Eichbaums
ausgebreitet hängt.«
Die Helden hörten dem Greise nicht ohne Grauen zu und wollten eben weiter fragen, als sich die Söhne des Boreas aus den
Lüften in ihre Mitte herniedersenkten und den König mit der tröstlichen Botschaft der Iris erfreuten.